Nach dem Anhänger*innen des (endlich!) ehemaligen US-Präsidenten das Kapitol gestürmt haben, wurde Trumps Account kurzerhand auf seiner Lieblingskommunikationsplattform Twitter gesperrt[1]. Der Grund? „Das Risiko weiterer Anstiftung zur Gewalt.“[2] Solche Sperrungen sind kein Einzelfall. Auch der deutsch-rechte Verschwörungsmythiker Ken Jebsen darf keine Videos mehr bei YouTube hochladen.[3] Und jetzt? Großer Jubel und Sieg für die Demokratie? Leider sind solche faschistischen Inhalte nicht das Einzige, was von Social-Media-Plattformen verbannt wird. Während in der tagesschau am Shoah-Gedenktag ein Interview mit der KZ-Überlebenden Esther Bejarano noch ausgestrahlt wurde, wurde dasselbe wegen angeblicher „Hate Speech“ (dt.: Hassrede) bei TikTok gesperrt – vermutlich, weil mehrere Rechte das Video meldeten.[4] Gerade jetzt, wo unsere Kommunikation hauptsächlich online stattfindet und sich das Internet zum Medium des öffentlichen Meinungsaustauschs etabliert hat, müssen wir uns immer mehr Fragen stellen: Wie finden wir es, dass private Unternehmen wie Twitter und YouTube Menschen einen Zugang zum öffentlichen Meinungsaustausch versperren können?
Wie funktioniert öffentlicher Meinungsaustausch?
Eine wesentliche Funktion der Öffentlichkeit ist es einen Meinungsaustausch zu ermöglichen, der „für die Allgemeinheit offen und zugänglich ist“[5]. Der Soziologe Jürgen Habermas definiert Öffentlichkeit als ein nichtinstitutionalisiertes „Netzwerk für die Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen“.[6] Auch Massenmedien können Teilöffentlichkeit herstellen und dienen damit unter anderem der Kontrolle politischer Macht[7] (Stichwort: Gewaltenteilung! [8]). Allerdings können nicht alle Menschen im selben Maße an dieser Öffentlichkeit teilhaben. Die feministische Philosophin Nancy Fraser kritisiert an Habermas’ Theorie, dass es systematische Barrieren gibt, die marginalisierte Gruppen davon abhalten, „einen tatsächlich vollwertigen und gleichberechtigten Zugang zur öffentlichen Debatte“zu erlangen.[9] Und wer keinen Zugang zur Öffentlichkeit bekommt, kann sich kaum am politischen Diskurs beteiligen.
Bei der Veröffentlichung von Habermas’ Theorie in den 1960ern, stellten noch ausschließlich traditionelle Massenmedien wie Fernseher, Zeitungen und Radio die mediale Öffentlichkeit her. Dort gab es einige wenige Medienproduzierende, die an eine große Masse ihre Botschaften sendeten – auch „one-to-many“-Kommunikation genannt[10]. Durch die Entwicklung des Internets und sozialer Netzwerke bekommen heute viel mehr Menschen durch „many-to-many“-Kommunikation die Möglichkeit, Medieninhalte nicht nur zu konsumieren, sondern zu produzieren[11]. Das wird auch „Prosumer-Culture“ genannt, wobei sich der Begriff aus den englischen Wörtern „producer“ (also Produzent*in) und „consumer“ (dt.: Konsument*in) zusammensetzt.[12] So viel mehr Menschen die Möglichkeit ein Teil der medialen Öffentlichkeit zu sein. Diese zunehmende digitale Vernetztheit wird als „alternative Öffentlichkeit“ bezeichnet[13] und kann als mächtige „fünfte Gewalt […], die aus den vernetzten Vielen besteht“[14], gesehen werden. Wir alle können also jederzeit über verschiedene Plattformen unsere healthy bowls, Babyfotos oder eben auch unsere Meinung darüber, warum wir die AfD scheiße finden, in die mediale Öffentlichkeit bringen – und das ist schon irgendwie ziemlich cool!
Willkommen im Club(house) – oder eben nicht!
Die Möglichkeit als Individuum in der Öffentlichkeit gehört zu werden, ist auf jeden Fall eine krasse Errungenschaft. Aber die Utopie einer weltweiten, frei zugänglichen Öffentlichkeit geht leider nicht automatisch mit einer Demokratisierung einher. Auch bei sozialen Netzwerken gibt es systematische Barrieren, die einen gleichberechtigten Zugang verhindern. Denn dass wir als Individuen tatsächlich in der medialen Öffentlichkeit sichtbar gemacht werden, ist nicht selbstverständlich und kann aus vielen Gründen scheitern:
Es gibt allgemeine Barrieren, die Menschen aus rechtlichen, technischen oder monetären Gründen komplett von der Nutzung ausschließen können. Zum Beispiel haben nicht alle Personen (stabilen) Zugang zum Internet. In manchen Regionen sind bestimmte soziale Netzwerke außerdem gesperrt und junge Menschen sind durch die Nutzungsbedingungen durch eine Altersbegrenzung ausgeschlossen.
Soziale Netzwerke können bestimmte Barrieren auch absichtlich aufstellen, um ihre Plattform exklusiver zu machen. Die neue und vieldiskutierte Plattform Clubhouse beschränkt den Zugriff zunächst auf iPhone-User*innen, welche als Einzige die Audio-Streaming App runterladen können – und das auch nur mit einer Einladung anderer User*innen. Zudem grenzt das sprachbasierte Netzwerk gehörlose Menschen komplett aus[15]– es ist eben wie ein exklusiver Club.
Aber selbst wenn wir dann Zugang zu der App und damit zur medialen Teilöffentlichkeit haben, bedeutet das nicht, dass wir Inhalte senden, die auch sichtbar sind – im Gegenteil. Auch hier greifen die selben Logiken, wie bei traditionellen Massenmedien: Die Accounts, die auf Social Media die meiste Aufmerksamkeit bekommen, sind meistens schon offline etabliert. So haben bei Twitter Barack Obama, Justin Bieber und Katy Perry die meisten Follower*innen[16]. Der Rest wird von einem Mix aus Influencer*innen und Unternehmen geführt. Unter den Top 30 Twitter-Accounts sind zum Beispiel bereits etablierte Medienunternehmen wie CNN, The New York Times und BBC.[17] Durch soziale Netzwerke können also theoretisch mehr Menschen Zugang zu einer medialen Teilöffentlichkeit haben — aber lange nicht alle! Außerdem ist in der Praxis die ‘one-to-many’-Kommunikation oftmals dominanter.
Das ist die Adpocalypse
Wer letztendlich gesehen wird und öffentliche Aufmerksamkeit bekommt, wird von den Plattformen und ihren Algorithmen bestimmt. Die Grundlage der Entscheidungen für Algorithmen treffen Social-Media-Plattformen, in ihrer Rolle als Unternehmen – also damit, wie sie am meisten Geld verdienen können. Die Entscheidungen werden also nicht in erster Linie nach demokratischen Werten ausgerichtet. Da sich die Plattformen hauptsächlich durch Werbung finanzieren, haben auch Werbepartner*innen einen enormen Einfluss auf die Entscheidungen der Plattformen.
So löste 2017 der damals größte YouTuber Pewdiepie die „Adpocalypse“ (zusammengesetzt aus Advertisement dt. Werbung, und Apokalypse) aus, als er diskriminierende Formulierungen in einem Livestream verwendete und daraufhin zahlreiche Großunternehmen ihre Werbung kurzfristig von der Plattform nahmen[18].[19] Die Werbepartner*innen fordern, dass sich die Inhalte der Creator*innen nicht zu weit vom Mainstream und der politischen Mitte entfernen. Nur so können sie ein größtmögliches Spektrum an User*innen (also potentiellen Konsument*innen) erreichen. Infolge dessen müssen YouTuber*innen, die finanziell auf Werbespots angewiesen sind, ihre Inhalte anpassen, um nicht „demonetisiert“ zu werden. Accounts die „familienfreundliche“, und damit auch werbefreundliche Inhalte zeigen, werden deshalb auch von Algorithmen bevorzugt, denn mehr Werbespots bedeuten auch für YouTube mehr Geld! Dieses Beispiel verdeutlicht: Plattformen und Unternehmen entscheiden maßgeblich, welche Inhalte in sozialen Netzwerken gezeigt und gesehen werden. Aber was bedeutet das nun für die mediale Öffentlichkeit?
Geld regiert die Welt (und das Internet sowieso)
Plattformen können vollkommen autonom entscheiden, welche Inhalte gezeigt oder sogar gesperrt werden. Bei Fällen von Gewalt oder Diskriminierung scheint eine Sperrung auch gesellschaftlichen Konsens zu finden – auf der Straße ist die Leugnung der Shoah oder Diskriminierung ja beispielsweise auch verboten. Aber in der Umsetzung scheint es nicht immer klar zu sein, was erlaubt ist und was nicht, da eben nicht nur diskriminierende Inhalte gesperrt werden, wie das Beispiel um die KZ-Überlebende zeigt. Auch zu viel nackte Haut führt sehr schnell dazu, dass Inhalte gelöscht werden. Was “zu viel” bedeutet, bestimmen die Plattformen selbst. Besonders (queere) Sexarbeiter*innen leiden durch wiederholte Sperrungen unter den Regelungen, die Social Media Plattformen treffen. Und das, obwohl sie auf die Plattformen als Werbeflächen angewiesen sind.[20]
Hier zeigt sich das große Problem: Im Gegensatz zu anderen teilöffentlichen Räumen, wie Theaterbühnen, erreichen soziale Netzwerke viel mehr Menschen und haben heute einen starken Einfluss auf unser alltägliches Leben. Die Folgen davon, nicht mehr Teil dieser Öffentlichkeit zu sein, können deshalb massiv sein.
Wie also mit problematischen Inhalten umgehen?
Wie wir tatsächlich mit diskriminierenden oder bedrohenden Posts oder Videos umgehen müssen, ist ziemlich komplex. Wir haben festgestellt: Social Media ist der Zugang zur Öffentlichkeit. Wenn dieser entzogen wird, kann das reale Konsequenzen haben. Soziale Netzwerke sind mittlerweile ein großer Teil unseres Lebens und haben Auswirkungen auf unser Konsumverhalten, die politische Meinungsbildung und sogar Wahlen[21].
Ein Blick zurück zur Utopie zeigt, die Plattformen könnten eigentlich ein Raum für alle sein, um sich auszutauschen – gerade für Meinungen außerhalb der konservativen Mitte. Und viele Menschen nutzen ihn auch dafür. Aber sind Shitstorms[22] oder das Melden von problematischen Inhalten dann eine angemessene Reaktion der Zivilgesellschaft, sich abseits von Gesetzen und Regeln an demokratischen Debatte zu beteiligen? Im Fall des Interviews mit der KZ-Überlebenden Esther Bejarano, haben die gleichen Dynamiken leider nicht zu demokratischen Debatten geführt. Stattdessen wurde das Mittel zur Meldung durch Einzelpersonen von Rechten missbraucht und eine demokratische Debatte verhindert.
Allerdings haben Unternehmen wesentlich mehr Macht darüber, wessen Reichweite erhöht werden oder wer gesperrt wird. Deshalb ist es wichtig zu hinterfragen, wer mit welchen Interessen Entscheidungen trifft. Da es bisher keinen gesicherten rechtlichen Rahmen gibt, der den Zugang in sozialen Netzwerken gewährleistet, bleibt es vorerst vor allem auch an uns User*innen, den öffentlichen Internet-Raum zu nutzen sowie kritisch zu hinterfragen. Aufgrund der unterschiedlichen Rechtslagen diverser Länder, ist die Idee einer staatlichen oder öffentlich-rechtlichen medialen Öffentlichkeit als weltweites soziales Netzwerk wohl auch unmöglich umzusetzen. Stattdessen muss genau erarbeitet werden, welche Verantwortung die Plattformen als neoliberale Konzerne daran haben, die politische Meinungsbildung wesentlich mitsteuern und wie sie dafür zur Verantwortung gezogen werden können.
[1] Vgl. Deutsche Welle (2021). „YouTube suspends Donald Trump account, joining Twitter, Facebook“. Deutsche Welle. https://p.dw.com/p/3nqNa (29.01.2021).
[2] DER SPIEGEL (2021). „Sendeschluss für US-Präsident: Twitter sperrt Trump-Account dauerhaft“. DER SPIEGEL. https://www.spiegel.de/netzwelt/twitter-sperrt-account-von-donald-trump-dauerhaft-a-dddf8e38-869c-4c4a-a3ae-86a313edba93 (29.01.2021).
[3] Vgl. Deutschlandfunk (2021). „Coronakrise: Youtube sperrt Kanal von Ken Jebsen endgültig“. Deutschlandfunk. https://www.deutschlandfunk.de/coronakrise-youtube-sperrt-kanal-von-ken-jebsen-endgueltig.1939.de.html?drn:news_id=1219000 (29.01.2021).
[4] Vgl. Kocak, Ferat Ali (2021). „🚫 #Holocaust Überlebende Esther Bejarano wird von TikTok am Gedenktag zensiert. Wie gut organisiert Nazis im Netz sind sehen wir an diesem Beispiel. Bitte teilen, liken und TikTok markieren damit sie mitbekommen, dass wir damit nicht einverstanden sind! #WeRemember #niewieder“. Facebook (@der.neukoellner). 29.01.2021. 4:07. https://www.facebook.com/der.neukoellner/videos/3646511968765542/ (29.01.2021).
[5] Bpb (o.J.). „Öffentlichkeit“. Bpb.
[6] Vgl. König, Tim (2012). „In guter Gesellschaft?: Einführung in die politische Soziologie von Jürgen Habermas und Niklas Luhmann“. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S.23
[7] Vgl. ebd.: S.21.
[8] Gewaltenteilung: Die Gesetzgebung (Legislative), ausführende Gewalt (Exekutive) und Rechtsprechung (Judikative) werden als die drei staatlichen Gewalten bezeichnet. Oftmals werden traditionelle Massenmedien als vierte Gewalt hinzugezogen, weil sie die ersten drei kontrollieren.
[9] Fraser, Nancy (2007). „Die Transnationalisierung der Öffentlichkeit. Legitimität und Effektivität der öffentlichen Meinung in deiner postwestfälischen Welt.“ Anarchie der kommunikativen Freiheit. Hrsg. Peter Niesen/ Benjamin Herborth. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 224–253; S. 231.
[10] Bleicher, Joan Kristin (2014). „Ökonomie, Technik, Entwicklung und Angebotsschwerpunkte des Social Web als Herausforderung für die Medienwissenschaft.” Social Media, christliche Religiosität und Kirche. Studien zur Praktischen Theologie mit religionspädagogischem Schwerpunkt. PopKult 14. S. 29–44. S.39.
[11] Vgl. ebd.
[12] Vgl. ebd.
[13] Hauser, Stefan (2019). Alternative Öffentlichkeiten : Soziale Medien zwischen Partizipation, Sharing und Vergemeinschaftung. Bielefeld: Transcipt Verlag. S.10.
[14] Ebd.: S.11.
[15] Im Gegensatz zu vorrangig visuellen Netzwerken, wie Instagram, wo Alternativtexte in den Captions sprachlich wiedergegeben werden und Videos untertitelt werden können. Erstmals gesehen bei: Raul Krauthausen via https://www.instagram.com/p/CKMXQ7wHYQX/ .
[16] https://socialblade.com/twitter/top/10
[17] https://socialblade.com/twitter/top/10
[18] Interessante Entscheidung, wird bedacht, dass die meisten dieser Unternehmen, wie Coca Cola, selbst wegen unethischen Handelns kritisiert werden.
[19] Vgl. Wikitubia (o.J.). „YouTube Adpocalypse“. Wikitubia. https://youtube.fandom.com/wiki/YouTube_Adpocalypse. (29.01.2021).
[20] Taylor, Erin (2019). „The Vanilla Internet: How Instagram Is Failing Queer Sex Workers“. Bitchmedia. https://www.bitchmedia.org/article/sex-workers-queer-meme-instagram-censorship. (29.01.2021).
[21] Vgl. Silverman, Craig (2016). „This Analysis Shows how Fake Election News Stories Outperformed Real News on Facebook”.BuzzFeedNews. https://www.buzzfeednews.com/article/craigsilverman/viral-fake-election-news-outperformed-real-news-on-facebook. (13.05.2020). S.232.
[22] Shitstorm: gegen ein Subjekt gerichteter „Sturm“ an Nachrichten, Kommentaren u.ä.mit kritischen bis beleidigenden Inhalten in den sozialen Netzwerken.