Bridgerton: Gossip Girl but make it diverse 19th Century

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Gast­au­torin: Mar­le­ne Leo­nie Bie­bri­cher I

Die aktu­ell meist­ge­se­hens­te Net­flix Serie Bridger­ton[1] (2020) ist gera­de in aller Mun­de. Eine Grup­pe keu­scher jun­ger Frau­en im hei­rats­fä­hi­gen Alter, in Kor­setts und in bun­ten Kos­tü­men zu Zei­ten der bri­ti­schen Regent­schaft, ver­drängt sogar die aut­ar­ke, bril­lan­te und von Sucht geplag­te Schach­meis­te­rin von Platz 1 des inter­na­tio­na­len Strea­ming Anbie­ters[2]. Doch im Gegen­satz zu Das Damen­gam­bit (2020)[3] ler­nen die Debü­tan­tin­nen und ihre jün­ge­ren Schwes­tern die Gren­zen ihrer Frei­hei­ten qua Geschlecht ken­nen, hin­ter­fra­gen patri­ar­cha­le Struk­tu­ren und schaf­fen es zusätz­lich noch das The­ma Diver­si­tät in der inter­na­tio­na­len Kri­tik dis­ku­tie­ren zu lassen.

Xoxo, Lady Whistledown

Bridger­ton, von Chris van Dusen kre­iert und von Shon­da Rhi­mes pro­du­ziert, beleuch­tet auf Vor­la­ge der Buch­rei­he von Julia Quinn fik­tiv die Ball­sai­son des Lon­do­ner Adels im Jah­re 1813. Die anony­me Lady Whist­le­down ent­schei­det mit ihren wöchent­li­chen Klatsch­blät­tern, ganz im Stil von Gos­sip Girl[4] und ihren ent­hül­len­den Tweets, über das Schick­sal der High Socie­ty. Gleich­zei­tig kom­men­tiert sie dies als Erzäh­le­rin mit bekannt iro­ni­schem Unter­ton. Ein ein­zi­ger Fehl­tritt kann das sozia­le Aus bedeu­ten! Ob sie dabei in Inter­es­sens­kon­flik­te gerät und wer die gehei­me Autorin über­haupt ist, erfahrt ihr, wenn ihr die Serie bis zum Ende schaut. 

Im Zei­chen des Eska­pis­mus schei­nen aktu­ell die Seh­ge­wohn­hei­ten der brei­ten Mas­se nach einer alten und ver­meint­lich ein­fa­che­ren Welt zu dürs­ten. So ste­hen Kos­tüm­fil­me und ‑seri­en hoch im Kurs. Die­se wer­den jedoch mit moder­nen Details ver­bun­den. Und damit sind wir schon bei mei­nem per­sön­li­chen High­light: Der Musik! Schon in der ers­ten Ball­sze­ne muss ich auf­hor­chen und blen­de kurz die Stim­me von Lady Whist­le­down (gespro­chen von der gran­dio­sen Julie Andrews) aus – ist das nicht Thank u, Next[5]? Immer wie­der wer­den moder­ne Hits in dra­ma­ti­schen und klas­si­schen Streich­quar­tet­tes mas­kiert, von Aria­na Gran­de über Tay­lor Swift bis hin zu Bil­lie Eilish.

Interessanter Spagat

Auch wenn sich vie­le für die Nost­al­gie des 19 Jahr­hun­derts begeis­tern, wol­len wir heu­te auch, dass sich Diver­si­tät und Gleich­be­rech­ti­gung auf der Lein­wand wider­spie­geln. Bridger­ton ver­sucht bei­den Aspek­ten gerecht zu wer­den. Was bis­her inner­halb des Gen­res zu sel­ten ange­tas­tet wur­de, bricht das His­to­ri­en­dra­ma mit prä­ze­denz­los diver­sem Cast auf – und das mit rie­sen Erfolg!

Han­delt es sich nun aller­dings um „Colour­blind Cas­ting“, dem Stre­ben nach kom­ple­xen und diver­sen Figu­ren der Pro­du­zen­tin, oder gab es womög­lich wirk­lich eine Schwar­ze Köni­gin Char­lot­te? Der Blick auf die­se Fra­ge erweist sich als äußerst span­nend! Die in der Buch­vor­la­ge nicht vor­han­de­ne Rol­le greift die Debat­te auf, dass die Gat­tin des König Georg III. Sophie Char­lot­te zu Meck­len­burg-Stre­litz afri­ka­ni­sche Vor­fah­ren gehabt haben könn­te[6]. Dies zu bele­gen ist heut­zu­ta­ge aller­dings nicht mehr mög­lich – die Ver­mu­tun­gen basie­ren auf Beschrei­bun­gen ihres Aus­se­hens und Por­trai­tie­run­gen sowie genea­lo­gi­schen Unter­su­chun­gen von Tei­len des por­tu­gie­si­schen Königs­hau­ses. Inner­halb der Viel­falt an Per­so­nen aller Schich­ten, vom Her­zog von Has­tings bis zu den Hof­da­men der Köni­gin und adli­gen Müt­tern und Töch­tern sowie Edel­män­nern und Bediens­te­ten, fin­den sich, für das Gen­re und die Epo­che unge­wohnt, vie­le Schwar­ze und Men­schen of Colour.

You can not not see Colour

Es han­delt sich bei der Beset­zung von Bridger­ton also um Colour­blind Cas­ting (dt.: far­ben­blin­de Beset­zung). Die­se Pra­xis ist als Ansatz in Film, Fern­se­hen und Thea­ter, ins­be­son­de­re in den letz­ten Jahr­zehn­ten, immer häu­fi­ger gewor­den. Sie eröff­net, beson­ders für nicht-wei­ße Schauspieler*innen, die Mög­lich­kei­ten aus den zumeist sub­al­ter­nen[7] Rol­len in Haupt­rol­len zu tre­ten und igno­riert dabei teil­wei­se, die zumeist weiß domi­nier­te lite­ra­ri­sche Vor­la­ge. Im Fal­le Bridger­tons ist dies ver­mut­lich der afro-ame­ri­ka­ni­sche Pro­du­zen­tin Shon­da Rhi­mes zu ver­dan­ken, wel­che die Buch­vor­la­ge der wei­ßen Autorin umset­ze und uns bereits für ihre Prio­ri­sie­rung kom­ple­xer und mehr­di­men­sio­na­le Schwar­zer Figu­ren in Seri­en wie Scan­dal und Grey‘s Ana­to­my bekannt ist. Dass Haut­far­be als Kate­go­rie dabei nicht ange­spro­chen und sogar gänz­lich igno­riert wird, ist so erfri­schend, wie auch ver­meint­lich problematisch. 

Denn ihr Nicht-weiß-sein bleibt kom­men­tar­los und wird von man­chen mit der pro­ble­ma­ti­schen Hal­tung des “kei­ne Far­be-Sehens” gleich­ge­setzt, die Dis­kri­mi­nie­rungs­er­fah­run­gen von BIPoCs (Black Indi­ge­nous Peo­p­le of Colour) rela­ti­viert. Der Kunst­jour­na­list Diep Tran, der sich auf Viel­falt und Reprä­sen­ta­ti­ons­ethik spe­zia­li­siert hat, erklärt, Colour­blind Cas­ting „negiert die sehr rea­len struk­tu­rel­len Hin­der­nis­se, die Darsteller[*innen] of Colour dar­an hin­dern, die glei­chen Chan­cen wie wei­ße Schauspieler[*innen] zu nut­zen — wie nied­ri­ge Löh­ne in der Thea­ter­bran­che, ein Man­gel an eth­nisch spe­zi­fi­schen Rol­len, die Darsteller[*innen] of Colour spie­len kön­nen, und unbe­wuss­te Vor­ur­tei­le von wei­ßen Thea­tern und Casting-Direktor[*innen]“[8]. Auch die Autorin Kath­le­en New­man Bre­mang bestä­tigt: „Nach­dem ich die Show geguckt habe, den­ke ich aber, dass sie uns vor allem eins vor Augen hält: Reprä­sen­ta­ti­on allei­ne ist nicht genug. Es reicht ein­fach nicht, hier und da ein paar hell­häu­ti­ge Schwar­ze Darsteller*innen raufzustreuen.“

Dabei höre ich pri­vat von Freund*innen, die dies als posi­ti­ven Fort­schritt fei­ern und ande­ren, die von “Geschichts­ver­fäl­schung” spre­chen. Aber nur, weil eine Erzäh­lung von der Ver­gan­gen­heit han­delt, muss sie ja nicht genau­so aus­se­hen — zumal wir von einer größ­ten­teils fik­ti­ven Geschich­te spre­chen, oder? Die Beset­zungs­ent­schei­dung ist auf jeden Fall nicht unüber­legt und führt zumin­dest zu einer Aus­ein­an­der­set­zung mit Vor­ur­tei­len und Seh­ge­wohn­hei­ten (wei­ßer) Zuschauer*innen. Sicher ist, dass die­ses The­ma auch in Zukunft prä­sent bleibt.

Nein heißt Nein! (Spoiler und Triggerwarnung sexualisierte Gewalt)

Ab Fol­ge 5 fährt die Serie dann mit einer 50-Shades-esken Wand­lung auf und die “16+” Alters­emp­feh­lung ergibt plötz­lich mehr Sinn. Die Serie bie­tet ihren Zuschauer*innen hier eini­ge sehr hei­ße Momen­te, aber auch einen sehr Pro­ble­ma­ti­schen. Obwohl Simon (Regé-Jean Page) sie dar­um bit­tet („War­te!“), stoppt Daph­ne (Phoe­be Dyne­vor) den Sex nicht, denn sie möch­te unbe­dingt von ihm schwan­ger wer­den. Die­se Sze­ne lässt sich in jet­zi­ger Wahr­neh­mung von Recht und Unrecht als Ver­ge­wal­ti­gung betrach­ten. Die Buch­vor­la­ge beschreibt dabei heim­tü­cki­scher, wie die Prot­ago­nis­tin die Müdig­keit und Betrun­ken­heit des Prot­ago­nis­ten aus­nutzt (Hal­lo? Alarm­glo­cken!). Ganz so extrem ist der Über­griff in der Serie nicht dar­ge­stellt und für die Zuschauer*innen bleibt, trotz all­dem, ein Gefühl von Ver­ständ­nis für Daph­nes Wut über Simons vor­an­ge­gan­ge­nen Ver­rat (die­ser hat­te näm­lich behaup­tet, er sei unfrucht­bar, um kei­ne Kin­der zeu­gen zu müs­sen). Die wei­ter­hin kri­ti­sche, aber sof­ter Ver­si­on die wir zu sehen bekom­men, liegt sicher­lich Über­le­gun­gen aus dem Wri­ters’ Room[9] zu Grun­de, um die Sym­pa­thie mit Daph­ne durch das Publi­kum nicht zu verlieren.

Trotz aller Miso­gy­nie, die das His­to­ri­en­dra­ma the­ma­ti­siert, ist Bridger­ton auch eine Erzäh­lung von Hin­ga­be und Eigen­sin­nig­keit, Freund­schaft und Fami­lie. Sie erzählt vor allem von den Opfern, wel­che die Figu­ren für eine Ord­nung brin­gen müs­sen, die sie teils blind akzep­tie­ren und teils lei­den­schaft­lich bekämp­fen. Genau hier­an erklärt sich für mich auch ihr Erfolg. Denn egal, ob Lon­don im 19. oder die Upper East Side New Yorks zu Beginn des 21. Jahr­hun­derts: uns erschei­nen die­se klei­nen und gro­ßen Kämp­fe nach­voll­zieh­bar und wir fie­bern lie­bend ger­ne mit den Figu­ren und ihren Gefüh­len mit.

Zur Gastautorin:

Mar­le­ne Leo­nie Bie­bri­cher stu­diert an der Mar­bur­ger Phil­ipps-Uni­ver­si­tät den Mas­ter Medi­en und kul­tu­rel­le Pra­xis sowie Gen­der Stu­dies und ist davon über­zeugt, dass Medi­en einen gro­ßen Bei­trag dazu leis­ten, wem wir zuhö­ren und wie unse­re Gesell­schaft in Zukunft aus­se­hen wird.


[1] 2020, Net­flix, Chris van Dusen.

[2] https://www.gq-magazin.de/entertainment/artikel/bridgerton-das-damengambit-und-co-das-sind-die-erfolgreichsten-netflix-originals.

[3] 2020, Net­flix, Scott Frank, Allan Scott.

[4] 2007–2012, Josh Schwartz, Ste­pha­nie Savage.

[5] Lied von Aria­na Grande.

[6] https://www.theguardian.com/world/2009/mar/12/race-monarchy.

[7] Auch: unter­ge­ben, unter­tä­nig, nachrangig.

[8] https://www.theguardian.com/tv-and-radio/2020/aug/11/its-dangerous-not-to-see-race-is-colour-blind-casting-all-its-cracked-up-to-be.

[9] Pro­duk­ti­ons­be­zeich­nung für den Ort, an dem meh­re­re Drehbuchautor*innen zusam­men­kom­men und gemein­sam Ideen kom­mu­ni­zie­ren und erarbeiten

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