More than Cringe: Was wir von Reality-TV lernen können

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Ihr fühlt euch schlecht, wenn Ihr mal wie­der nur Trash geguckt habt? Das müsst Ihr jetzt nicht mehr! Wir lie­fern Euch die per­fek­te Aus­re­de, um nie wie­der ein schlech­tes Gewis­sen beim Rea­li­ty-TV gucken zu haben!

Nein, im Ernst, in unse­rem letz­ten Arti­kel haben wir ganz schön über Rea­li­ty-TV her­ge­zo­gen und sind auf des­sen nega­ti­ve Fol­gen ein­ge­gan­gen. Trotz­dem ist klar: Die Meis­ten von uns kon­su­mie­ren die For­ma­te von Bachelor*ette bis Som­mer­haus der Stars trotz­dem! Wir sind fas­zi­niert von dem Ver­hal­ten der Kandidat*innen, die sich in der Öffent­lich­keit bla­mie­ren. War­um es auch Vor­tei­le für uns hat, zu sehen, wie ein Mann Rosen an 20 norm­schö­ne Frau­en ver­teilt, dar­um soll es in die­sem Arti­kel gehen.

Mit die­ser Fra­ge bege­ben wir uns näher in das Feld der Medi­en­päd­ago­gik oder genau­er, der Medi­en­bil­dung. Die Erzie­hungs­wis­sen­schaft­ler Ben­ja­min Jöris­sen und Win­fried Marotz­ki haben ein Bil­dungs­kon­zept der Struk­tu­ra­len Medi­en­bil­dung [1] ver­fasst, dass uns erklärt, wie uns Medi­en­pro­duk­te bil­den kön­nen. Hier sind nicht Infor­ma­tio­nen aus Wis­sens­pro­gram­men, wie Die Sen­dung mit der Maus gemeint, deren direk­tes Ziel es ist, uns etwas bei­zu­brin­gen. Statt­des­sen geht es dar­um, wie wir unser Ver­hält­nis zur Welt reflek­tie­ren und ver­än­dern kön­nen. Medi­en prä­gen unser Bild von der Welt und die Fra­ge ist, wie? 

In unse­rer post­mo­der­nen Gesell­schaft wird Ver­ant­wor­tung immer mehr auf Ein­zel­per­so­nen ver­la­gert, da Ent­schei­dungs­in­stan­zen, wie zum Bei­spiel Tra­di­tio­nen oder Reli­gio­nen, immer unwich­ti­ger wer­den. Da die media­le ver­mit­tel­te Infor­ma­ti­ons­viel­falt steigt (#infor­ma­ti­o­no­ver­load) und sich neue Lebens­ver­hält­nis­se ent­wi­ckeln, ste­hen wir vor der Auf­ga­be, uns, in der kom­ple­xer wer­den­den Welt, schnell ori­en­tie­ren zu müs­sen. Es ent­ste­hen Kri­sen und Medi­en hel­fen uns dabei, die­se durch Ori­en­tie­rungs­wis­sen zu über­ste­hen.

So schaf­fen Medi­en Ori­en­tie­rung

Ori­en­tie­rungs­wis­sen hilft uns dabei, mit unbe­kann­ten Erfah­run­gen und Anders­ar­ti­gem umzu­ge­hen, sich an die schnell ver­än­dern­den Lebens­ver­hält­nis­se in der Gesell­schaft anzu­pas­sen und eine offe­ne Hal­tung zu bewah­ren
. Dazu stell­ten Jöris­sen und Marotz­ki vier Dimen­sio­nen auf, die erklä­ren, wie Medi­en unser Welt­bild beein­flus­sen können:

Was kann ich wis­sen?
Wie unser letz­ter Arti­kel hof­fent­lich gezeigt hat, kön­nen uns Rea­li­ty-TV-For­ma­te dazu anre­gen, zu hin­ter­fra­gen, woher unser Wis­sen über­haupt kommt. Wir fra­gen uns, wer die Sen­dun­gen pro­du­ziert, was sie zei­gen und war­um. Durch das kri­ti­sche Hin­ter­fra­gen von Quel­len kön­nen wir uns also bereits Ori­en­tie­rungs­wis­sen aneignen.

Was soll ich tun?
Eben­so kön­nen wir uns fra­gen, ob wir alles tun soll­ten, was wir tun kön­nen. Dabei kön­nen wir fra­gen, ob es mora­lisch ver­tret­bar ist, 16-jäh­ri­ge Models in einem Haus zu iso­lie­ren und ihre Kör­per zu bewer­ten. Die Sen­dun­gen zei­gen uns Hand­lungs­op­tio­nen auf, die wir für uns hin­ter­fra­gen können. 

Was darf ich (hof­fen)?
Wel­che Gren­zen kön­nen wir über­schrei­ten und wel­che müs­sen wir akzep­tie­ren? Unter ande­rem kul­tu­rel­le Erfah­run­gen zei­gen uns unter­schied­li­che Lebens­rea­li­tä­ten, zum Bei­spiel durch den Kon­sum aus­län­di­scher Sen­dun­gen (z.B. Ter­race House) oder Ein­bli­cke in ande­re Milieus (z.B. Frau­en­tausch). Die­se unter­schied­li­chen Lebens­rea­li­tä­ten kön­nen uns an unse­re eige­nen Vor­stel­lungs­gren­zen brin­gen: Was hat es mit dem Erd­beer­kä­se auf sich? Wür­de ich auch soweit gehen und ein­fach in einen mir frem­den Haus­halt einziehen?

Was ist der Mensch?
“Um den per­fek­ten Abend­look zu kre­ieren, wür­de ich an Ihrer Stel­le das grü­ne Kleid neh­men”, “Ich wür­de nie einem Model mit …Krank­heit sagen, dass sie sich einen andern Job suchen soll – Ich wür­de das anders machen!“ — Das sind Gedan­ken, die uns oft beim Fern­se­hen kom­men. Wir bewer­ten nicht nur das Ver­hal­ten der Kandidat*innen, wir ord­nen unser eige­nes Han­deln in den Kon­text ein. Wir iden­ti­fi­zie­ren uns mit den Kandidat*innen oder gren­zen uns von ihnen ab. Wir fin­den Evan­thia sym­pa­thi­scher als And­rei oder Jen­ny. Dadurch reflek­tie­ren wir das Mensch­li­che und auch unse­re eige­ne Identität.

Rea­li­ty-TV ist also mehr als Guil­ty Plea­su­re und kann uns vor allem sozia­les Wis­sen ver­mit­teln: Wie ver­hal­ten sich Men­schen in unter­schied­li­chen Situa­tio­nen? Wor­über reden sie? Wie reagie­ren Ande­re dar­auf? Wie wür­den wir uns ver­hal­ten? Wir ler­nen, was sozi­al akzep­tiert ist und wie wir uns selbst in das Gese­he­ne ein­ord­nen können.


[1] Jöris­sen, Ben­ja­min und Win­fried Marotz­ki: Medi­en­bil­dung – Eine Ein­füh­rung. Bad Heil­brunn: Ver­lag Juli­us Klink­hardt 2009. 

Marotz­ki, Win­fried und Ben­ja­min Jöris­sen: Dimen­sio­nen struk­tu­ra­ler Medi­en­bil­dung. In: Her­zig, Bar­do u.a. (Hg.): Jahr­buch Medi­en­päd­ago­gik 8. Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozi­al­wis­sen­schaf­ten 2010.

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