Pärchen, die wie von Zauberhand mit einem Sprung ihre Kleidung tauschen oder 14-Jährige, die beeindruckende Tanzchoreographien hinlegen? Die Rede ist natürlich von Reels. Die max. 30-sekündigen Videos sind seit August nun auch auf Instagram verfügbar. Das Phänomen, das sich an Musically, TikTok und SnapChat anlehnt und in den letzten Jahren immer beliebter geworden ist, ist, jedoch eigentlich gar nicht so neu. Ein Blick auf die Filmgeschichte zeigt, dass die kurzen Filme sogar die Entstehung des bewegten Bildes (also des Films) waren. Aber was macht sie so besonders, dass wir uns schon seit über 100 Jahren damit unterhalten?
Let Me Entertain You
Okay, erstmal einen Schritt zurück. Was sind Reels eigentlich? Reels sind Videos, die direkt in der Instagram-App aufgenommen und bearbeitet werden können. Integriert sind unter anderem Schnittwerkzeuge, eine Musik- und Effektbibliothek, feste Kameraperspektiven, Zeitraffer- und Zeitlupenfunktionen. Damit ist die kreative Bearbeitung von Videos super einfach und für jede*n machbar — auch ohne Vorerfahrung.
Aber auch schon Ende des 19. Jahrhunderts wurden mit Montage und Schnitten an Kurzfilmen experimentiert, die maximal ein paar Minuten lang waren [1]. Diese lassen sich in die Epoche des frühen Films einordnen, die den Beginn des Films 1895 markiert [2]. Um einen der ersten Filme ranken sich viele Legenden. Das Publikum sei vor Schreck aufgesprungen, heißt es. Denn – oh Schreck – im Film Arrival of a Train at La Ciotat fährt ein Zug direkt auf die Zuschauer*innen zu – was für eine Sensation!
Inspiriert wurde der frühe Film von Jahrmarktattraktionen, dem Theater und Varieté. Die Sensation, das Spektakel stand im Vordergrund. Der frühe Film wird deswegen auch oft als „Kino der Attraktionen“ bezeichnet [3]. Eine der Senationen war der Stopptrick. Einer der Haupteffekte, die heute auch in Reels genutzt werden. Der Trick wurde übrigens zufällig von dem Filmpionier Georges Méliès erfunden, während er einen Zaubertrick filmte[4]. Instagram und TikTok machen es uns heute noch einfacher und bauen Techniken wie den Stopptrick direkt in ihre Apps ein. So können wir alle leicht zugänglich einfache und unterhaltende Videos von überall, zu jeder Zeit produzieren.
Im Unterschied zum Spielfilm, der sich ab 1906 langsam durchsetzte, wird im frühen Film die eher nebensächliche Narration (Geschichte) um den Trick herum arrangiert[5]. Nicht die Geschichte, sondern die Illusion steht im Vordergrund. Denn die technische Neuheit Bilder zu bewegen, macht den Film erst zur spannenden Attraktion[6]. Auch bei Reels steht heute wieder die technische Innovation im Zentrum, die es nun uns allen möglich macht, die Effekte selbst anzuwenden.
Da es in so kurzer Zeit nicht möglich ist, komplexe Erzählungen zu zeigen, werden oftmals starke Emotionen wie Liebe, Freundschaft oder Hass präsentiert [7]. Wie die Regisseur*innen des frühen Films, buhlen Influencer*innen mit den Emotionen um das Interesse der User*innen (dt.: Benutzer*innen) auf ihren Social Media-Accounts. Das Stichwort: Aufmerksamkeitsökonomie. Denn es geht genau darum, dass die Aufmerksamkeit der User*innen auf die Videos gelenkt werden und sie diese dann auch ansehen– nur so bekommen die Influencer*innen, die für sie wichtigen Klicks.
Eine weitere große Ähnlichkeit: der Fokus liegt auf dem Visuellen. Anders wäre es im frühen Film auch gar nicht möglich gewesen, denn der Tonfilm musste erst noch erfunden werden. Musik wurde stattdessen vor Ort live gespielt. Dadurch, dass Reels von überall zu jeder Zeit konsumierbar sein sollen — also auch mal beim Bahnfahren ohne Kopfhörer -, muss auch bei ihnen die Attraktion über die Bilder funktionieren und der Ton auch ausgeschaltet bleiben können. Deshalb werden auch oft Untertitel in die Videos eingeblendet. So funktioniert in beiden Fällen sogar Humor ohne Ton:
Macht uns die Hektik dumm?
Und der Gag funktioniert nicht nur ohne Ton, sondern muss in kürzester Zeit erzählt werden und hat deshalb eine schnelle Geschwindigkeit. Eigentlich war die Kürze der Filme den technischen Grenzen geschuldet. Allerdings passten die Beschleunigung und geringe Länge der Filme in die moderne Zeit der Industrialisierung, als sich das Leben an die Hektik der Großstadt anpasste [8]. Auch der Tag wird durch das elektrische Licht verlängert und technische Innovationen erhöhen das Tempo im Alltag. Es entsteht das Zeitalter der Nervosität, welches nach immer extremeren Eindrücken verlangt. So sind folgende Beispiele nur wenige Sekunden lang:
Im Vergleich zu den noch kürzeren und schnelleren Reels, wirken die frühen Filme für heutige Sehgewohnheiten allerdings schon langsam. Dabei gab es damals, ähnlich wie heute, schon die Befürchtungen, die Schnelligkeit würde die Menschheit dumm machen:
„[Die Zuschauer*innen] werden nur noch wissen, wie sie ihre großen leeren Augen öffnen können, nur zum Schauen, Schauen, Schauen.“ (Louis Haugmar 1913) [9]
Schlafstörungen und Konzentrationsschwierigkeiten würden die Gesundheit bedrohen[10]. Erinnert uns an heutige Debatten, oder? So wird auch heute immer wieder befürchtet, die Medien und soziale Netzwerke könnten die psychische Gesundheit Jugendlicher stark gefährden.
Is it Reel?
Was die beiden noch gemeinsam haben, ist, dass auch der frühe Film schon von Intellektuellen als primitiv angesehen wurde, da er nur die anonymen Massen unterhalte[11]. Auch an sozialen Netzwerken wird der Fokus auf oberflächliche Unterhaltung oft kritisiert. Vor allem, dass auf Instagram und Co. hauptsächlich private Fotos, Videos und aktuelle Erlebnisse gezeigt werden, wird oft abgewertet. Aber auch aktuelle Privataufnahmen gab es schon vor über 125 Jahren:
Möglich werden diese scheinbar spontanen Aufnahmen erst durch Technik:
„Der Filmapparat ist allgegenwärtig. Nichts und niemand schließt sich vor ihm. Seine Indiskretion ist privilegiert und wird eingeladen.“ [12]
Das ist jedoch kein Zitat über mobile 4k Smartphonekameras. Das Zitat von 1915 bezieht sich auf die Darstellung im frühen Film, denn die Technik ist eine Sensation für die Zuschauer*innen. Was heute das Handy ist, war damals der Kinematograf. Das war ein tragbarer Apparat, den sich sogar die Mittelklasse leisten konnte [13].
Auch wenn die Aufnahmen privat und spontan wirken, waren jedoch auch die damit gedrehten Filme, wie heute Reels und TikToks, nicht rein zufällig, sondern inszeniert. So wurde die Hinrichtung des Mörders des US-amerikanischen Präsidenten komplett nachgestellt[14]. Auch besonders bekannt dafür ist die scheindokumentarische Aufnahme, in der die Mitarbeiter*innen der Filmbrüder Lumière in ihrer Sonntagskleidung und auf genau konstruierten Wegen eine Fabrik verlassen:
Flucht in die Bilder
Der frühe Film und Reels haben also viele Gemeinsamkeiten. Vor allem, dass die Attraktion vor der Narration steht, ist ihnen ähnlich und unterscheidet sie gleichzeitig vom klassischen Spielfilm. Zwar sind es jeweils eigenständige Kunstformen, aber vielleicht eint sie, dass die Zuschauer*innen bei ihnen etwas sehen wollen, das nur kurz ihre Aufmerksamkeit verlangt. Wir wollen nicht immer anspruchsvolle Geschichten sehen, manchmal erfreuen wir uns einfach gerne an kurzen Witzen oder Erzählungen. Denn diese bieten uns gerade in der komplexen und schnellen Welt, einen einfachen Ausweg aus der Realität – eine Flucht in die Bilder. Gerade diese viel kritisierte Einfachheit der Darstellung und Attraktion, spricht etwas in uns an und macht die Kunstformen zu etwas Einzigartigem.
[1] Vgl. Kittler, Friedrich (1986). Grammophon Film Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S.177.
[2] Vgl. Elsaesser, Thomas (2002). Filmgeschichte und frühes Kino: Archäologie eines Medienwandels. München: edition text + kritik. S.48.
[3] Vgl. Gunning, Tom (1990). “The Cinema of Attractions: Early film, its Spectator and the Avant-Garde”. Early Cinema: Space-Frame-Narrative. Hrsg. Thomas Elsaesser/ Adam Baker. London: British Film Institute. S.57.
[4] Vgl. Kittler (1986). S.177.
[5] Vgl. Gunning (1990). S.56.
[6] Vgl. ebd. S. 58 f.
[7] Vgl. Kreimeier, Klaus (2011). Traum und Exzess: Die Kulturgeschichte des frühen Kinos. Wien: Paul Zsolnay Verlag. S.94.
[8] Vgl. Kreimeier (2011). S. 80.
[9]ebd. S.89.
[10] Vgl. ebd. S. 91.
[11] Vgl. ebd. S. 92.
[12] Vgl. ebd. S. 80.
[13] Vgl. Elsaesser (2002). S.53
[14] Electrocution de l’anarchiste Czolgosz, Pathé 1901.
Vgl. Lenk, Sabine (1997). „Der Aktualitätenfilm vor dem Ersten Weltkrieg in Frankreich“. KINtop. Nr. 6.: Aktualitäten. S.52.