Für viele von uns ist Reality-TV ein Ausweg aus dem Alltag: Entspannung und Unterhaltung – Fernsehen ohne Nachdenken, die Möglichkeit zur Zerstreuung. Wir bekommen Einblicke in unterschiedliche Lebensrealitäten: Modeln, Kochen, Kindererziehung, die ein oder andere Liebeseskapade. Aber wenn wir ehrlich sind, gefällt uns doch am besten das Gesehene zu kritisieren und ein bisschen zu lästern!
TRIGGERWARNUNG: In diesem Artikel werden sensible Themen, wie Mobbing und Suizid angesprochen. Bitte lies den Artikel nicht — oder zumindest nicht alleine‑, wenn Dich diese Themen triggern können.
Doch diese Welt der Zerstreuung hat ihre eigenen Regeln und zeigt auch immer wieder reale Konsequenzen auf – vor allem für ihre Darsteller*innen. Beispiele gefällig? Aktuell schafft das RTL Sommerhaus der Stars jede Woche einen neuen Promi-Skandal um Andrej, Jenny, Georgina und Co., was schon zu vielen Tränen und geplatzten Werbedeals führte. Im Finale der diesjährigen Staffel Germany’s Next Topmodel gab es eine unvorhersehbare Überraschung: Die ehrgeizige Kandidatin Lijana Kaggwa verlässt die Sendung aufgrund von Hassnachrichten und Morddrohungen[1]. Und in Japan wird indes politisch über die Konsequenzen von Cyberbullying diskutiert, nachdem die Teilnehmerin Hana Kimura der Realitysendung Terrace House Suizid begangen hat[3].
Woher kommt diese Ambivalenz aus leichter Unterhaltung und harten Konsequenzen im Format Reality-TV? Wieso sind gerade Reality-TV-Kandidat*innen von Mobbing betroffen? Beeinflusst Reality-TV sogar Mobbing? Um das zu klären, müssen wir uns anschauen, wie diese Formate funktionieren, was sie ausmacht und natürlich, warum wir sie uns so gerne ansehen.
Von wegen real: So funktioniert Reality-TV
Das Genre des Reality-TV umfasst zahlreiche Subgenre wie Reality Shows oder Reality Soaps. Reality-TV-Formate können – stark vereinfacht – als Sendungen definiert werden, denen kein Drehbuch zugrunde liegt (engl.: unscripted) und bei denen Amateurdarsteller*innen in konstruierten Umgebungen gefilmt werden[4]. Auch die Darsteller*innen selbst werden von den Produktionsfirmen nach ihren Vorstellungen gecastet. Fiktive und dokumentarische Elemente werden so miteinander vermischt, dass die Grenzen kaum noch wahrnehmbar sind.
Zusätzlich zu den geplanten Situationen und Sets, in die die ausgewählten Kandidat*innen versetzt werden, können die Produzent*innen die Narration auch in der Post-Produktion durch Schnitt oder den geschickten Einsatz von Musik lenken – genau wie bei einem Spielfilm. Dabei greift das Fernsehen oftmals auf Handlungsstrukturen aus Märchen zurück, in denen Leute ihr altes Leben für die Suche nach einem besseren verlassen[5]. Denken wir nur an den Bachelor, der als Traumprinz im Schloss seine Anwärterinnen empfängt, oder auch an Heidi und ihre „Mädels“: Die Kandidatinnen der Sendungen verlassen ihr gewohntes Leben auf der Suche nach einem besserem[6] — auf der Suche nach Abenteuern.
Die dokumentarischen Elemente der unscripted Szenen unterliegen allerdings auch einem kommerziellen Zweck[7]. Deswegen werden die Produktionskosten meist gering gehalten oder starke Emotionen und Eskapaden eingesetzt, um die Sendung bei uns populär und damit auch finanziell erfolgreich zu machen. Das private Verhalten der Darsteller*innen soll für das Publikum konsumierbar gemacht werden[8]. Dabei wird besonders vermeintliche Authentizität belohnt und nichtprominente Personen werden als Celebrities gefeiert[9].
Dieser Fokus auf das Private spiegelt sich im Fernsehangebot wieder, wo dramatisierte Einblicke in das Leben von gewöhnlichen Personen gegeben werden[10]. Dies hat den Zweck, die „voyeuristische[n] Bedürfnisse ihrer Zuschauer“ zu befriedigen[11]. Gleichzeitig passt sich das Fernsehen damit an die Sehgewohnheiten der Internetkonkurrenz an[12]. Denn in sozialen Netzwerken wie Instagram wird die Privatheit einer Person natürlich ebenfalls inszeniert. Dies kann oder muss auch von den Reality-TV-Teilnehmer*innen genutzt werden, um mit eigenen Accounts einen unmittelbaren Eindruck in ihr privates Leben zu geben. So binden sie das Publikum parallel durch die potentielle Bekanntheit an die Sendung und bieten einen direkten Austausch mit uns, den Zuschauer*innen, an. Gleichzeitig etablieren sich die Teilnehmer*innen dadurch als Marke und können auch nach Abschluss einer Sendung online Geld verdienen (#Werbung).
Win-Win für alle! Wir Zuschauer*innen können in den sozialen Medien unsere voyeuristische Neugier noch weiter ausleben und uns dadurch gleichzeitig an die Person (und Sendung) erinnern. Sender und Teilnehmer*innen verdienen Geld und stehen im direkten Kontakt mit uns.
Die nicht-prominenten Darsteller*innen müssen sich also im Fernsehen und auch in sozialen Medien (selbst-)inszenieren. Die problematische Botschaft entsteht: „Wichtig ist nicht, wer ich bin, sondern als wen mich andere sehen. Wichtig ist nicht, wer ich bin, sondern als wen ich mich zeige“[13]. Dadurch wird Prominenz neu definiert – diejenigen, die im Fernsehen auftauchen, werden automatisch zu Prominenten[14].
Was bedeutet das nun für unseren Reality-TV Konsum?
Es gibt zwei Dinge, die wir uns als Zuschauende besonders bewusst machen sollten, wenn wir Reality-TV Formate konsumieren und darüber sprechen:
1. Im Mittelpunkt steht die Persönlichkeit der Kandidat*innen. Zwar kann es sein, dass die Sendung andere Themen, wie beispielsweise Kochen oder Erziehung, einbindet, aber letztendlich geht es immer darum, wie die Darsteller*innen (scheinbar) sind, wie sie sich verhalten, was ihre Schicksale sind und wie sie sich entwickeln. Die Themen sind letztlich immer wieder die gleichen: Streit, Liebe, Überraschungen und Schicksalsschläge – alles verpackt in großen Emotionen und vor allem Drama, Drama, Drama!
2. Apropos Drama… die Darstellung dieser Persönlichkeiten ist hochgradig inszeniert. Selbst wenn es (angeblich) kein Drehbuch gibt, werden die Kandidat*innen in Situationen gestellt, die von den Serienmacher*innen geplant und konstruiert wurden. So kommt es, dass 16 bis 25-jährige Frauen über Wochen in einer Villa in L.A. leben, in der sie kaum Kontakt zu ihrer Familie halten dürfen (und wenn, dann nur unter den Augen der Öffentlichkeit), während sich ihr gesamtes Leben um ihre Modelkarriere dreht und sie sich dabei noch in Spinnen- oder Bungeejumpingshootings ihren geheimsten Ängsten stellen müssen. Sie werden rund um die Uhr von Kamerateams begleitet und wissen nie, wie lange ihr Traum noch anhält. Das ist eine unfassbare Ausnahmesituation, die absichtlich genauso hergestellt wird, eben um Spannung und Drama zu erzeugen. Nach dem Videoschnitt können wir zudem nicht mehr nachvollziehen, wie die Situationen wirklich waren und was definitiv alles passiert ist, das aber nicht ausgestrahlt wurde.
Show me your Personality!
Das Fernsehen lädt uns also dazu ein, Persönlichkeiten zu beobachten und steuert unsere Wahrnehmung. Aber nicht nur das reine Wahrnehmen von Persönlichkeiten bietet uns Reality-TV an, es geht vor allem auch um das Beurteilen der Kandidat*innen. Wir fühlen uns dadurch unterhalten, die Sender erregen unsere Aufmerksamkeit und das Beste: Jede*r kann mitreden! So zum Beispiel in Formaten wie Das perfekte Dinner. Nach 14 Jahren Sous-vide-Garen sollte es sich doch mal ausgekocht haben, oder? Fehlanzeige! Das perfekte Dinner erreicht im Durchschnitt auch heute noch täglich 1,12 Millionen Menschen[15]. Halbgare Kochkünste, hässliche Wohnküchen und lästernde Kandidat*innen versüßen uns regelmäßig den Feierabend.
Dabei ist Das perfekte Dinner ja noch die gemäßigte Form des Reality-TV. Bei Germany’s Next Topmodel werden die jungen Kandidatinnen zum Ende jeder Folge durch Heidi Klum aufs schärfste beurteilt und vorgeführt (zusätzlich zu den Beurteilungen der Frauen untereinander).
Only god everybody can judge me
Deutlich zeigt sich die Be- und Verurteilung von Teilnehmer*innen auch in Terrace House. In der japanischen Realitysendung, die auch auf Netflix zu sehen ist, geht es um drei Frauen* und drei Männer* die zusammen in einem Haus leben. Im Gegensatz zu ähnlichen Formaten aus Deutschland oder den USA gibt es aber dort keine Spiele und die Darsteller*innen dürfen nicht nur jederzeit das Haus verlassen. Sie führen parallel ihr normales Leben weiter und sehen sich sogar selbst die Ausstrahlung der Sendung — mit ein paar Wochen Verzögerung — im Fernsehen an! Dieses Setting ist für unsere europäischen Sehgewohnheiten sehr ungewöhnlich (einige würden sagen: langweilig). Viele der Teilnehmer*innen geben außerdem offen zu, ihre Model‑, Schauspiel- oder Sportkarriere mit der Teilnahme fördern zu wollen oder hoffen auf die romantische Liebe. Jede Folge zeigt dann ihr gemeinsames Leben in dem Haus über den Zeitraum einer Woche. Das Besondere? Jede Terrace House Folge wird durch die Kommentare von sechs bis sieben Prominenten aus Japan unterbrochen. Diese sehen sich gemeinsam die Szenen der Hausbewohner*innen, die auch wir Zuschauer*innen gesehen haben, an. Unser Sofa wird sozusagen um weitere Gäst*innen verlängert, mit denen dann gemeinsam über das Gesehene und die Menschen getratscht wird. Die Kommentare der Prominenten werden zusätzlich noch durch eingespielte Lacher unterstrichen, ähnlich wie bei Sitcoms. Da es bei Terrace House nur um das Zusammenleben bzw. allgemein das Leben der Kandidat*innen geht, kommentieren die Prominenten eben ausschließlich deren Persönlichkeiten und Verhalten. Die Kandidat*innen werden gelobt, zerrissen oder belächelt, wenn die Promis über hässliche Pullover, unangenehme Unterhaltungen, außergewöhnliche Jobs und unkonventionelle Lebenseinstellungen philosophieren.
Ist Reality-TV also nichts anders als die Vorlage für Mobbing?
Ja, es geht darum, andere Menschen zu beurteilen. Anders als beispielsweise Schauspieler*innen aus Spielfilmen, geht es bei dieser Bewertung vorrangig um die Persönlichkeit (andere Fähigkeiten, wie Kochen, Modeln oder Singen können dies begleiten). Nun ist aber eine Beurteilung auf Basis der Persönlichkeit kein Mobbing. Aber: Wenn nun diese Kritik täglich von hunderten oder sogar tausenden Zuschauer*innen in sozialen Netzwerken geteilt wird und zusätzlich unangemessen oder gewalttätig ist, handelt es sich um (Cyber-)Mobbing.
Nachdem bei Terrace House Verbindungen zwischen Kimuras Tod und Cyber-Mobbing in Bezug auf die Serie hergestellt wurden, gab die Produktionsfirma bekannt, die Sendung einzustellen[16]. Zudem wurden Gerüchte laut, die inszenierte Serie würde sich nicht um die Kandidat*innen kümmern und hätte die 22-Jährige absichtlich schlecht dastehen lassen[17]. Natürlich hat Suizid komplizierte und vielfältigere Ursprünge als nur eine Fernsehsendung, dennoch dürfen die Auswirkungen, die Reality-TV Formate haben, nicht unterschätzt werden.
Wir wollen hier keine Spaßverderber*innen sein. Auch wir schätzen die Zerstreuung und den unterhaltenden Charakter von Reality-TV. Trotzdem sollten die Produktionspraktiken und Formate hinterfragt und kritisiert werden, wenn die Konsequenzen in der Realität schlimme Folgen haben können und öffentliche Bloßstellung gefeiert wird. Wir sollten von den Produktionsfirmen fordern, dass sie verantwortungsvoll mit den Personen umgehen, die uns tagtäglich mit ihren Persönlichkeiten unterhalten.
Wenn Du selbst von Mobbing betroffen bist oder Menschen kennt, die unter Mobbing leiden, kannst Du dich per Mail an die „Nummer gegen Kummer“ wenden oder kostenlos die 0800 — 111 0 333 anrufen.
[1] Vgl. Red/dpa (21.05.2020). „‚Germany’s Next Topmodel‘-Finale: Lijana geht nach Mobbing und Anfeindungen freiwillig“. Stuttgarter Zeitung. https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.germany-s-next-topmodel-finale-lijana-geht-nach-mobbing-und-anfeindungen-freiwillig.237e805a-848e-41b7-a167-12f193570e19.html.
[2] Vgl. Wunderweib (28.05.2020). „Nach ‚Let’s Dance‘: Nach Hass & Mobbing — Ilka Bessin trifft drastische Entscheidung!“. Wunderweib. https://www.wunderweib.de/nach-hass-mobbing-ilka-bessin-trifft-drastische-entscheidung-110986.html.
[3] Vgl. Dooley, Ben/ Hikari Hida (01.06.2020). “After Reality Star’s Death, Japan Vows to Rip the Mask Off Online Hate”. The New York Times. https://www.nytimes.com/2020/06/01/business/hana-kimura-terrace-house.html.
[4] Vgl. Kavka, Misha (2012). Reality TV. Edinburgh: University Press. S.5
[5] Vgl. ebd.: S.21
[6] Vgl. Bleicher, Joan Kristin (2006). „,We love to entertain you’: Beobachtungen zur aktuellen Entwicklung von Fernsehformaten“. Hamburger Hefte zur Medienkultur. No. 08. S.20.
[7] Vgl. ebd.
[8] Ebd.: 179
[9] Ebd.
[10] Vgl. Bleicher, Joan Kristin (2006). „,We love to entertain you’: Beobachtungen zur aktuellen Entwicklung von Fernsehformaten“. Hamburger Hefte zur Medienkultur. No. 08. S.19
[11] Ebd.
[12] Ebd.
[13] Ebd.
[14] Vgl. ebd.: S.20.
[15] vgl. Scharfenberg, Lukas quotenmeter.de
[16] Vgl. Hunter, Benks (29.05.2020). „Fuji TV setzt nach Tod von Hana Kimura Terrace House ab“. Sumikai. https://sumikai.com/mangaanime/fuji-tv-setzt-nach-tod-von-hana-kimura-terrace-house-ab-273708/.
[17] Vgl. ebd.