„Ich kann mir auf jeden Fall nicht vorwerfen, die Realität verfälscht zu haben. Weil diese Realität, die ich in dem Film geschaffen habe, ist eine viel authentischere Realität, als das ich sie mit einem direct cinema [echten Bildern] hätte herstellen können“1
Elke Lehrenkrauss — Regisseurin “Lovemobil”
Diese Rechtfertigung der Regisseurin Elke Lehrenkrauss folgte auf die Enthüllung des Reportage-Magazins strg_f , dass die Reporterin in ihrer Doku „Lovemobil“ sowohl Zuschauer*innen, als auch Redaktionen getäuscht hat: Viele der gezeigten Bilder sind nur nachgespielt und auch die Hauptprotagonistinnen sind Schauspieler*innen, die selbst nicht wussten, dass sie in einer Doku mitspielen. Dieser Eklat wirft nun die Frage auf: Was ist (darf) eine Doku und welches grundsätzliche Problem hat die Filmform?
Zum Hintergrund: Was ist passiert?
strg_f von funk hat vor zwei Wochen ein Video veröffentlicht, in dem offenbart wird, dass der Film „Lovemobil“ (2019) gar keine Dokumentation ist2.
Abgesehen von einer, sind alle anderen Protagonist*innen im Film Schauspieler*innen. Sie sollten authentisch das Leben von Frauen zeigen, die in Deutschland in angemieteten Wohnmobilen leben und als Sexarbeiter*innen auf Freier warten. Diese Form der „Minibordelle“ gibt es zwar wirklich, allerdings wollte keine der tatsächlichen Sexarbeiter*innen ihren Alltag von einem Kamerateam begleiten lassen — zumindest nicht so nah, wie die Bilder des Films es am Ende zeigen. Deshalb griff die Regisseurin auf Schauspieler*innen zurück. Das ist zunächst nicht ungewöhnlich; Szenen werden in Dokumentationen häufiger nachgestellt. Eigentlich werden diese allerdings sichtbar für alle, als „Nachgestellte Szenen“ markiert.
Diese Markierung blieb bei Lovemobil jedoch aus. Lehrenkrauss behauptete, alles wäre „echt“ – die „Doku“ wurde ein großer Erfolg. Gelobt wurde sie dabei vor allem für ihre nahen und ausdrucksstarken Bilder, weshalb sie 2020 sogar mit dem Deutschen Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet wurde. Nicht mal der NDR, der den Film mitfinanziert hatte, bemerkte, dass die Szenen inszeniert wurden. Als die Regisseurin Lehrenkrauss mit den Vorwürfen konfrontiert wurde, offenbarte sie schließlich die tatsächlichen Drehbedingungen. Wie sich im Report von strg_f zeigt, ist ihr der Vorfall sichtlich unangenehm. Aber war die Intention der Regisseurin, überzeugende Bilder nachzustellen, wenn sie in der Realität existieren, wirklich falsch? Ein Blick auf die Entstehungsgeschichte der Dokumentation hilft dabei, diese Frage zu beantworten.
Ein bisschen Realität muss sein
Tatsächlich sollten Dokus das reale Leben zeigen — fernab jeglicher Inszenierung, so sieht es einer der ersten Dokumentarfilmer, Dziga Vertov. Er verstand Dokumentationen auch als Form zu „der Erforschung der Lebenserscheinungen“3.
Damit wurde schon 1930 eine, bis heute anhaltende, Abgrenzung zum fiktionalen Spielfilm hergestellt. Die Doku sei für Höheres bestimmt, nämlich als Wissensvermittlung mit sozialem Anspruch: Der „belehrende Film“ sei wie eine Fotographie, die „das natürlich gegebene Leben“ abbildet und durch die „Nebeneinanderstellung der Details eine Erklärung dafür [gibt]“, erklärt auch John Grierson, der als erstes die Bezeichnung ‚documentary´ genutzt haben soll4.
Und heute? Werden Dokus immer noch als „Zeichen der Zeit“ beschrieben5. Auch über 80 Jahre nach den ersten Abhandlungen über den Dokumentarfilm stellt der Medienwissenschaftler Knut Hickethier fest, dass das wesentliche Merkmal einer Doku ihr Wirklichkeitsbezug ist6. Allerdings ist es egal, welchen Inhalt die Doku zeigt oder welche Stilmittel (Nachgestelle Szenen, Off-Kommentare, Musik…) die Produzierenden benutzen. Alleine durch den Stempel „Dokumentation“ betrachten wir Zuschauer*innen das Filmmaterial mit dem Anspruch, echtes, wahrhaftiges, reales, evidentes Bildmaterial vor uns zu haben. Und hier liegt das Problem.
Das Problem mit der Wahrheit
Ein Film wie „Lovemobil“, der als Dokumentation markiert war, aber wohl gar keine ist, fühlt sich wie ein Betrug an. Wir fühlen uns getäuscht. Nicht, weil die Bilder nicht ästhetisch sind, die Szenen nicht toll inszeniert, sondern einzig und alleine, weil das wesentliche Merkmal der Doku nicht erfüllt wurde. Und die Enttäuschung ist groß: „Am Ende ist es eine Katastrophe für den Dokumentarfilm“, schreibt die taz und kommt zu dem Schluss: „Wenigstens dem, was sich als Fakt verkauft, sollte man trauen können“7.
Stimmt schon irgendwie. Aber was Fakten sind lässt sich bei Dokus gar nicht so genau sagen. Denn Wahrheitsanspruch hin oder her – am Ende sehen wir Zuschauer*innen immer ein Produkt, das mit einer Intention, aus einer Perspektive von den Produzierenden aufgenommen und im Anschluss mit dieser Perspektive nachbearbeitet wurde. Eine Dokumentation entsteht nicht einfach so. Selbst wenn sie versucht, so authentisch wie möglich, Lebenswelten zu zeigen, ist alleine die Auswahl des Themas eine persönliche Entscheidung für und gleichzeitig auch gegen bestimmte Bilder. Dies sollten wir bei der Sichtung von Filmen, gerade bei Dokus oder anderen Reportage-Formaten, immer mitdenken. Besonders dann, wenn es um die Darstellung von sensiblen Inhalten geht.
Dass die Einordnung in einen Kontext durch uns Zuschauer*innen so wichtig ist, machen Formate wie die „Kultur- und Reisereportage“ besonders deutlich. Sie wird von Zuschauer*innen auch als Abbildung der Realität wahrgenommen. Dabei sind besonders Filme über Lebensrealitäten des globalen Südens8, gekennzeichnet durch starke Emotionalisierung, Verallgemeinerungen und stereotype Bilder vom „Exotischen“. Produziert von weißen Menschen aus dem globalen Norden geben sie einen vom Kolonialismus geprägten Blick wieder, der nicht zuletzt zur Reproduktion von Rassismen beiträgt9.
Dokus zeigen immer nur EINE Perspektive
Auch in „Lovemobil“ geht es um sehr sensible Inhalte und die Enttäuschung ist deswegen wohl auch besonders groß, jetzt wo klar ist: alles inszeniert. Die Erklärung der Regisseurin, durch die nachgestellten Szenen, vielleicht sogar authentischere Bilder geschaffen zu haben, muss demnach sehr kritisch betrachtet werden. Denn Filmschaffende können sich nicht einfach über die tatsächlichen Lebenswelten von Menschen hinwegsetzen. Auch nicht, wenn es darum geht, einen authentischen Film zu gestalten. Zuletzt kann Regisseurin Lehrenkrauss stark dafür kritisiert werden, dass sie die Produktion und gerade die Schauspieler*innen nicht darüber informiert hat, dass sie in einem Dokumentarfilm mitspielen.
Letztlich zeigt der Eklat über die falsche Doku, wenn auch unfreiwillig, die Grenzen des Formats auf und liefert uns Zuschauer*innen damit eine wichtige Botschaft: Filme, die sich mit dem Label „Doku“ zieren, müssen kritisch und immer im Kontext betrachtet werden. Auch wenn unsere Sehgewohnheiten so geprägt sind, sollten wir Dokumentationen nicht einfach als aufgezeichnete Wirklichkeit hinnehmen, sondern als einen Film und damit, als eine Perspektive von vielen.
- strg_f “Fake Doku”: https://www.youtube.com/watch?v=ckq2PeQ6VJc ↩
- ebd. ↩
- Vertov, Dziga. „Vorläufige Instruktion an die Zirkel des »Kinoglaz«“. Bilder des Wirklichen: Texte zur Theorie des Dokumentarfilms, hg. von Eva Hohenberger, Vorwerk 9, 2012 (1926), 78–84. ↩
- Grierson, John. „Grundsätze des Dokumentarfilms“. Bilder des Wirklichen: Texte zur Theorie des Dokumentarfilms, hg. von Eva hohenberger, Vorwerk 8, 2021 (1933), 90–102. ↩
- Bleicher, Kristin. Fernsehen als Mythos — Poetik eines Narrativen Erkenntnissystems, Westdeutscher Verlag, 1999. ↩
- Hickethier, Knut. Einführung in die Medienwissenschaft, J.B. Metzler, 2010. ↩
- taz.de “Die „authentischere“ Realität”: https://taz.de/NDR-Doku-Lovemobil/!5757061/ ↩
- Länder des Globalen Südens sind die Länder, die früher als Entwicklungsländer oder Schwellenländer bezeichnet wurden. Die Mehrzahl dieser Länder liegt in Afrika, Latein- und Südamerika sowie Asien. Die Bezeichnung Globaler Süden dient dazu, die verschiedener Positionen in der globalisierten Welt wertfrei zu beschreiben und die Aufstellung einer Hierarchie zwischen verschieden entwickelten Ländern zu vermeiden. ↩
- Shome, Raka und Radha S. Hdge. „Postcolonial Approchaes to Communication: Charting the Terrain, Engaging the Intersections“. International Communication: A Reader, hg. von Daysa Kishan Thussu, Rouledge, 2010, 89–104. ↩